Der Moment

Das Glas splitterte.

Der Moment nach dem Aufprall war wunderschön.

Das Glas noch ganz und im nächsten Moment brachen tausende von Scherben, manche gross, manche klein, aus ihm hervor, als wären sie nie vereinigt gewesen, sondern nur kantenlos aneinandergefügt worden.
In allen Farben brach das Licht durch die Scherben und wirkte dabei, als ob der Regenbogen in seine Einzelteile zerbrochen worden wäre, um dann von einem Zauberer in dieses Glas eingesperrt zu werden. Und in genau diesem Moment wurden alle Farben befreit und schrieen in ihrer Freiheit als einzelne Farben durch die einzelnen Bruchstücke, wie Teile eines magischen Diamanten, dessen Magie gebrochen war und nun in seiner mächtigsten Erscheinung freibrach und sich sofort an der Luft zersetzte.

Die Teile schwebten herum und drehten sich, Ballerinatänzerinnen gleich, um ihre eigenen Achsen, überschlugen sich, prallten ineinander, um schlussendlich der Gravitation zu erliegen und auch nach dem Aufschlagen auf dem Boden noch etwas hin und her zu schaukeln, bis sie endgültig still liegen blieben.

Die Gesichter, im Wissen des Aktes des nächsten Momentes, diesem Glas zugewandt, starrten hilflos und zum Teil vor Erschrecken mit geöffneten Mündern auf die folgenden Momente.

Selbst der rettende Arm kam zu spät und statt es zu retten, griff seine an diesem Ende verbundene Hand verfehlend über dem Glas hinweg und verfehlte dieses um einige Zentimeter, wobei es seinen Weg unbeirrt weiter nach unten fortsetzte.

Die Geräuschkulisse, um ein unglaublich lautes Geräusch des Moments erweitert und um auf sich aufmerksam zu machen, nahm im Sekundenbruchteil der Veränderung, das ganze Spektrum für sich ein. Von Ganzheit zur Spaltung, startet es mit einem hohen sirrenden Geräusch, welches durch ein scharfes Ping eingeleitet wurde.
Dann folgte das Schaben und Knirschen, einem Gletscher gleich der zeitmässig eine Beschleunigung erfahren hatte und nun dem Tempo einer Schnecke gleich, über eine Geröllhalde kroch, um alle sich unter ihm befindlichen Steine auf einer riesigen Breitseite zu zermalmen und wie Sand zwischen den Zähnen knirschen zu lassen und diese zu zermalen.
Es folgte das Schaben, bis die Einzelteile total unabhängig voneinander sich gelöst hatten. Dieses wurde durch hunderte leise Zusammenstösse begleitet, jedes Mal, wenn sich zwei Scherben berührten. Es war mit dem Geräusch zu vergleichen, das entsteht, wenn zwei feingliedrige Elfen ihre feinkristalligen Elfenkelche aneinanderstossen im Moment eines freudigen Anstossens. Der folgende Aufschlag auf dem Boden war unspektakulär und nur durch ein leises Geräusch begleitet, als hätte jemand einen Stein in einen Sumpf geworfen, welcher beim Auftreffen zwar nicht saftig, aber doch einigermassen fest stecken geblieben wäre.

Als wäre ein Stein ins Wasser gefallen, welcher von seinem Aufschlagpunkt aus Wellen erzeugt hätte, welche in rhythmischer Art und Weise, auf und nieder und von seinem Landepunkt aus sich verbreitet hätte, löschte dieses Ereignis alle weiteren Geräusche und Gespräche im Raum aus und reduzierte die Geräuschumgebung auf Null.
Verschiedensten Geräuschesensoren gleich, drehten sich die anwesenden Köpfe in Richtung der enstandenen Störung um.

Stille war entstanden.

Der Moment der Ruhe und des Friedens löschte alle Ideen und Gedanken aus und ermöglichte die Entstehung eines vollkomenen Friedens, welcher von den Anwesenden als Stille wahrgenommen wurde.

Die Stille löste Unbehagen aus.
Und sie brachte einen Druck mit sich, der grösser wurde, je länger dieser Moment andauert.
Dem Druck zu entkommen, sich nicht von ihm ertränken zu lassen, nicht alleine dazustehen, diese Vermeidung liess die Gespräche wieder einsetzen und die Welt der normalen Geräusche wieder langsam in ihren vorherigen Zustand zurück zu kehren.

Die Scherben knirschten unter der Schuhsohle, bei jedem Schritt.
Unbekümmert des Friedens, wischte ein Kellner die Scherben auf, Leute entschuldigten sich und die Welt lief weiter ab, als wäre nie etwas andere passiert.

Am Rande der Szene, auf einer einzelnen Blüte, eines wohl bald verblühenden Blumenstrausses, sass der Gott des Friedens und war zufrieden mit dem Resultat, welches er in diese Welt gebracht hatte.


Beitrag veröffentlicht

in

von

Schlagwörter:

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert